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 © Enno Ahrens Geschichten/Aphorismen/Zitate
Enno Ahrens ( gelöscht )
Beiträge:

27.11.2007 10:13
RE: Kleine Blume Antworten

Kleine Blume

In Schneidersitzen hockten sie dort auf der Wiese am Hintereingang des hannoverschen Hauptbahnhofs. „Ja“, sagte Big John, ein etwas schlacksiger Kleindealer, „dies ist der „heilige Rasen“ der Junkies. Ohne mich könnste hier nicht so einfach drauf, klar?!“ „Klaro!“

Big John tollte albern auf der Grünfläche herum, auf der kein Blümchen erblühte, wohl weil sie zu sehr im Schatten des Bahnhofs liegt. Dann zeigte Big John auf ein Mädchen mit weichen, roten Locken. Sie hatte ein blasses, zierliches Gesichtchen. „Wie gefällt dir Vanessa? Wenn sie dich mag, kannste Glück haben und du bezahlst anstatt fünfzig nur dreißig Euro.“ Irgendwie hatte Big John mich missverstanden, als ich ihn vor einer Stunde an der Bahnhofsbar kennen gelernt hatte, und ich ihm mehr aus Spaß sagte, zum Glück fehle mir ne scharfe Braut, die mit mir über eine wild-romantische Blumenwiese pilgere, von Bäumen umstanden, aus deren Gezweig uns schillernde Vögelchen mit schwellenden Brüstchen die lieblichsten Gesänge in die Ohren zwitschern würden.“ Doch plötzlich stand Vanessa vor uns, beugte sich zu uns herab und fragte: „Hat einer von euch mal ne’ Kippe?“ „Klaro“, sagte Big John, reichte ihr eine und gab ihr ein Zeichen auf mich deutend.

Sie fragte mich: „Du hast also ’nen Bock auf mich?!“ Ich blickte in ihre großen Augen. Es war so, als schaute man durch zwei aquamarinfarbene Edelsteine gegen’ s Licht in ein unendliches Nichts. Sind Augen Fenster der Seele, so konnte man kein Ego hinter diesen hier erkennen, ihre Seele schien unbewohnt. Vanessas Ich hielt sich im Uhrenkasten verborgen wie das kleinste Geißlein im Märchen. Ich betrachtete sie immer noch etwas versunken. „Was ist nun, willst de oder nicht?“ „Doch doch“, erwiderte ich hastig. „Ja, dann folge mir. Ich habe da einen Platz.“

Sie schritt voran, und ich erfreute mich am Anblick ihrer langen Beine und ihres knackigen, weiblichen Pos in der engen verwaschenen Jeans. Wir waren aus dem Blickfeld der Junkies heraus um eine Häuserecke gebogen. Blütenduft lag in der schwülen Luft; hier lagen aber nur ein Haufen Betonbrocken, von Blumen keine Spur.

Nun erst hielt ich ein und sagte zu Vanessa: „Ich habe doch nicht das Bedürfnis, deinen Platz...“ „Warum haste das nicht gleich gesagt?!“ blockte sie mich ab und wollte schon zurücklaufen, als ich sie fragte: „Wie lange?“ „Halbe Stunde!“ entgegnete sie mürrisch. „Und wenn ich dir das Geld gebe und du diese Zeit nur ein wenig mit mir quatschen oder mir einfach nur zuhören würdest?!. Okay?“ „Mir soll’ s egal sein“, erwiderte sie etwas gereizt und gelangweilt. „Also setzen wir uns.“ „Gut!“

Sie hockte sich auf den Boden gegen die Wand eines alten, mit Sandsteinblöcken grundierten Gemäuers gelehnt, ich setzte mich auf den Schotter davor, beugte mich zu ihr vor und steckte ihr das Geld zu. Ihr ganzes Wesen hatte immer noch etwas von einer Schaufensterpuppe, mechanisch, funktionell und blutleer. Dann fragte ich sie: „Dein Heroinkonsum wird eine unzufriedene, unansehnliche Frau aus dir machen, wäre es da nicht besser, einen anderen Weg einzuschlagen, umzukehren?“ „Ja“, zischte sie mit einem zynischen Unterton „die Alternative wäre so leben, wie die meisten Leute, den ganzen Tag unter ständigem Mobbing und Stress stupide arbeiten und abends bei Knabbergebäck und Alkohol diesen unerträglichen Alltag aus dem Kopf vertreiben, sich mit Helden von Abenteuerfilmen am Fernsehen zu identifizieren, sich in Phantasiewelten, fern von unserer Realität, entführen zu lassen. Wo ist da der Unterschied zu meinem Alltag, den ich mir mit Heroin versüße?!“

„Nun, der wesentliche Unterschied ist, dass du eine Marionette der Drogenmafia bist. Du bist nicht souverän, andere führen über dich Regie. Dein Leben ist eine trostlose Einbahnstraße im ständigen Angesicht des Todes, ein Spießrutenlaufen von einer Suchtbefriedigung zur nächsten, ohne Zeit zum Atemholen.“ Vanessa knurrte: „Was ist denn schon dieser Klacks von Leben?!“ „Nun, ohne Sternschnuppen wäre der Himmel ärmer.“ Vanessa hüllte sich in Schweigen.

Neben ihr in einer zerbröckelten Fuge zwischen zwei Sandsteinquadern sah ich dann ein zierliches, im leichten Luftzug bibberndes Blümchen, mit einem zerbrechlichen Stil, an deren oberen Ende eine zartblaue Blüte mit letzter Kraft versuchte, so schien es, ihre schlappen Blütenblätter zu entfalten. Ich zeigte Vanessa die Pflanze, die einzige in diesem Beton und Asphalt weit und breit, die den Frühsommer anzeigte. Ich sagte: „Ist das Blümchen nicht ein Synonym für dich, ein kleines ringendes, einsames Geschöpf in einer erbärmlichen, entmenschlichten Steinwüste.“ Unsere Blicke berührten sich abermals, aber diesmal spürte ich einen Widerstand, in ihrem bleichen Gesicht war plötzlich Leben, die Mundwinkel waren zu einem milden Lächeln verzogen, ihr Ich hatte den Uhrenkasten verlassen und ich spürte seinen warmen Hauch. Hinter den Fenstern ihrer Seele tauchte für einen Moment eine liebreizende Prinzessin auf, nur flüchtig, aber es war dennoch eine beglückende, intensive Berührung. Vanessa erhob sich: „Die halbe Stunde ist `rum!“ Sie gab mir einen Kuss auf den Mund, schob geschwind den Fünfzigeuroschein in meine linke Brusttasche meiner Jeansjacke und eilte zurück in Richtung Bahnhof. Dort reihte sie sich wieder ein im Schneidersitz – eine versteinerte Blume.

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