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 © Enno Ahrens Geschichten/Aphorismen/Zitate
Enno Ahrens ( gelöscht )
Beiträge:

07.09.2007 22:46
RE: © Enno Ahrens - Spucke der Verachtung Antworten

Spucke der Verachtung

Olaf erschien als letzter unserer Clique, den Kopf eingezogen gegen den einsetzenden Regen. Mit grimmigen Augen blickte er sich um, eine junge Frau hautnah an seinen Fersen, die smaragdgrünen Augen in ihrem bleichen, hohlwangigen Vamp-Gesicht mit anklagendem Zorn, die vollen, blaugefärbten Lippen hysterisch verkniffen. Über unserem Treffpunkt zog eine düstere Gewitterfront auf, den warmen Sommerwind auffrischend. Nach einem Monat der Abstinenz hatten wir uns wieder versammelt. Maik, Enzo und Kalli tollten bereits johlend auf dem kurzgemähtem Rasen der Parkanlage herum. Dann einträchtig, mit roten Miniröcken gekleidet, unsere drei Girls im Gleichschritt herbei, mitten durch die kleine Stadt, gemeinsam die Arme untergehakt.

Olaf strich sich mit einer fahrigen Handbewegung den feuchten, strubbeligen Blondschopf zurecht, schmauchte hastig an seiner Zigarette. Seine schlanke, entschlossene Verfolgerin im zerschlissenen Bluejeansanzug, diese Steffi, war uns anderen unbekannt gewesen. „Bleib bei mir. Ich werde mich ändern. Bestimmt!“ Sie umarmte ihn. Er schubste sie von sich, eilte mit langen Schritten zu seinem VW-Bus, sie hetzte schluchzend hinterher, rutschte aus, stürzte zu Boden, erwischte noch sein linkes Bein, heftete sich mit beiden Armen daran, hartnäckig wie ein Tasmanischer Teufel. Nur mühsam konnte Olaf sie abschütteln, schleifte sie ein Stück mit, bevor sie sich resignierend aus der Anklammerung löste. Erschöpft glitt ihr Kopf in eine Wasserpfütze, ihre seidigen, schwarzen Haare verwandelten sich in schmutzige Wollfäden.

Unsere Girls signalisierten entrüstet, dass ihnen diese Szene furchtbar peinlich war und wendeten sich gleich ab. Maik meinte: „Man, ist die Tante ätzend.“ Enzo und Kalli spähten fragend zu Olaf hinüber, der inzwischen an sein Auto gelehnt mit trotziger Miene dastand. Olaf winkte stumm und beschwichtigend ab.

Erste Blitze zuckten, der Regen nun in Schnüren. Wir liefen geschwind zu Olafs Pkw, ohne Steffi noch eines Blickes zu würdigen. Hatte keiner ihre Verzweiflung erkannt oder war sie nur hysterisch?

Tanja erwartete uns in ihrem Partykeller; beklemmendes Schweigen während der Fahrt dorthin. Höflich lächelnd begrüßte sie uns. Dürr wie ein Laufsteg-Modell war sie. Ihre blonde Kurzhaarfrisur ließ sie noch kesser und intelligenter aussehen. Spaßeshalber hatte ich einmal ihren Stirn-Nasenrückenwinkel und den Oberlippen-Nasenstegwinkel gemessen. Die Werte entsprachen genau dem heutigen Schönheitsideal. Tanja kleidete sich elegant, war voller Erotik. Ihr abgeklärter, scharfer Geist und ihre Distanziertheit schreckten aber viele Männer.

Tanja und ich fanden uns auf Anhieb sympathisch, und so ist es geblieben. Man betrachtete uns als Paar. Wir hockten viel miteinander zusammen, betrieben gemeinsam die Hobbymalerei und küssten uns, an besonders glücklichen Tagen. Mit ihr hätte man ohne Schwierigkeiten eine Familie gründen können. Ihr konnte man unbedingt vertrauen, sie hatte keine Launen, ihre Fröhlichkeit jeden Morgen, wenn ich mit ihr aufwachen würde. Aber wie lange könnte ich so ein Eheleben ertragen? Damals war ich neunzehn und hatte Bedenken, vor Langeweile zu verstauben.

Im Partykeller erzählte Olaf uns dann endlich von seiner Verfolgerin im Park: „Steffi heißt sie. Ich lernte sie im „Joy“ in Hannover vor einer Woche kennen. Sie hatte gerade ihr Psychologiestudium geschmissen und war ganz schön zugedröhnt gewesen. Ich ließ mich mit ihr ein. Kurz darauf merkte ich, dass sie Heroin nahm und sich prostituierte. Da war natürlich Trennung angesagt. Aber diese Klette will es nicht kapieren. Ich hätte ihr nicht von unserem Treffen berichten dürfen. Sie hatte schon versteckt auf mich gelauert; muss wohl hergetrampt sein.“

Und wieder ersteht vor mir das Bild dieser Steffi, trostlos ihr Gesichtsausdruck beim Abschied im Park, wie eine öde Polarlandschaft, aus welcher der eisige Wind jedes Leben vertrieben hatte. Ob sie noch in der Pfütze verharrte? Ich musste immerzu an sie denken. Das Unfassbare ihres Wesens fassbar machen, das war es an ihr, was reizte. An Tanja war alles glatt, im Voraus zu berechnen, denn sie folgte stur den gesellschaftlichen Regeln, mit unerschütterlicher Vernunft. Doch Steffi erschien wild, unbeherrscht und unberechenbar. Ich konnte sie nicht mehr aus meinem Kopf verbannen, zu neugierig war ich, sie kennen zu lernen, ihre Motive zur Sucht zum Beispiel, für mich Fremdland, und alles andere an ihr stellte ich mir damals abenteuerlich, geheimnisvoll vor, wie das Erforschen eines unbekannten Dschungels.

Ich sagte zu Tanja, ich hätte noch wichtige Arbeiten zu erledigen. Sie reagierte konsterniert und gekränkt, hatte sie doch mit mir einen schönen Abend erwartet. Sie hoffte immer noch, dass wir ein echtes Paar würden. Ich beeilte mich auf meinem Fußweg zur Parkanlage. Steffi kauerte in sich zusammengesunken auf einer Sitzbank, nahe der Pfütze. Ihr buntes, ausgefallenes Hippie-outfit klebte von der Nässe eng an ihrer gebräunten Haut, so dass ihre leichten weiblichen Rundungen unbeabsichtigt lockten. Die Haare schlingerten wie Wasserpflanzen vor ihrem Gesicht. Endlich ließ der Regen etwas nach. Ich tippte ihr auf die Schulter. Träge schaute sie auf. Ihre Augen starrten verstört an mir vorbei; der Blick schien sich in einer Welt voller Entsetzen zu verlieren. Ihr Schluchzen klang bitter, wie ein letztes Seufzen vorm Sterben, ein ohnmächtiges Sich-Ausliefern in einen Psychotod, ein Eingefrorensein der Lebensfunktionen, wie bei geschockten Kaninchen kurz vor dem vernichtenden Zugriff des Bussards.

Es war zwar ein lauer Sommerabend, aber ein bisschen Wind und die durchnässte Kleidung, so was führt leicht zu einer Erkältung. Mit bebender Stimme sagte sie mir, dass sie zehn Kilometer entfernt wohne, in Bargstedt. In dem Zustand hätte sie sicherlich keiner mitgenommen, und Busse fuhren um diese Zeit an Wochenenden hier nicht. So holte ich mein Auto von Zuhause, kramte eine Wolldecke daraus hervor und legte sie ihr um, schob meinen Arm behutsam unter Steffis und zog diesen feinen, störrischen Körper sanft zu meinem Wagen.

Stufe für Stufe schob ich sie die Treppe zu ihrer Dachgeschosswohnung hoch, setzte sie dann in ihre Dusche. Wie ein braves Baby ließ sie sich von mir waschen. Ich sah ihre Einstiche am Arm. Nachdem ich sie trocken gerubbelt hatte, suchte ich ein paar Kleidungsstücke aus den Schränken zusammen, ein mühsames Unterfangen, weil alles durcheinander lag; so lag ein Socken eines zusammengehörigen Paares im Küchenschrank, während der andere sich im Nachttisch versteckt hielt.

Steffi saß leblos auf der Kante ihres breiten, französischen Bettes. Plötzlich riss sie ihren Slip herunter, warf die Beine auseinander und ließ ihren Oberkörper schlapp ins Bett fallen. „Gib mir fünfzig Mark, und du kannst mit mir machen, was du willst!“ Wie konnte sie sich nur derart entwürdigen. Pausenlos redete ich auf sie ein, dass ich ihr einen Therapieplatz besorgen wollte und sonstige Dinge, denn die Sucht war an allem Schuld. Es perlte sinnlos ab von ihr wie Regenwasser an einer Böschung.

Sie flehte mich an, nur dieses einzige Mal Stoff für sie zu besorgen. Dann würde sie Ruhe finden, und wir könnten ernsthaft über eine Therapie sprechen. Der Schmerz in ihren traurigen Augen, das Zittern und Zucken ihres zerbrechlichen Körpers, der Anblick grenzenlosen Leidens, erzwangen mein Mitleid. Sie litt an erbärmlichen Schüttelfrost, doch es war schwül und draußen blühten die Linden. Ich sagte schließlich, wir führen in die Stadt, und der willenlose Körper setzte sich auf einmal energisch in Bewegung, galoppierte die Treppe hinunter zu meinem Pkw, dass ich Mühe hatte, gleichauf zu folgen.

Die Lichter von Hannovers City rückten näher. Ich gab ihr 250 DM. In diesem Augenblick erschien sie mir ruhig; hätte ich ihn doch einfangen, stoppen können, die Buchenbäume hätten Äpfel getragen. Aber ich wartete im Auto, während sie ihr Suchtbedürfnis mit Heroin befriedigte. Nach einer halben Stunde kam Steffi wieder, eine beschwingte, junge adrette Frau, ohne Sorgen, hätte man meinen mögen. Was war sie doch jetzt für ein süßes, agiles Geschöpf, sie wirkte nun entspannt, ihre wunderschönen Augen sehr verträumt.

Ich war erstaunt, über was man sich alles mit ihr unterhalten konnte, vom Zen-Buddhismus über dadaistische Malerei bis hin zum Humeschen Induktionsproblem, und alles mit bereichernd verspielter Tiefe. Amüsant fand ich auch ihren verrückten Versuch, mit Worten das Besondere des Lächelns der Mona Lisa darzustellen. Und ich wusste, ich hatte eine Schwäche für solche Frauen, denn irgendwo in meiner Seele ist ein verstecktes, sehr individuelles Kämmerlein mit einem bestimmten Code, und so eben nicht für jeden zugänglich. Ich stellte ihr einige Fragen, die mein eigenstes Verständnis dieser Welt gegenüber betrafen, und ihre Antworten trafen mich unerwartet wie Blitze; sie hatte den Code in mir geknackt.

Ein Gefühl stellte sich ein, dass ich mit ihr eins wäre, dass nur ein Herzschlag in uns erklingt; ein Bedürfnis, sich ihr völlig auszuliefern, völlig hinzugeben, jede Kluft des Anderssein, die uns einsam vor den Mitmenschen einschließt, zu ihr aufzulösen. War es das, was man Verlieben nennt?

Am übernächsten Tag ging ihr wieder der Stoff aus, ohne dass wir über Therapie geredet hätten. Es war so schön mit ihr, dass ich auch wohl unbewusst dieses Thema mied. Sie wurde unausstehlich gereizt, schlug panisch auf mich ein, um gleich darauf wie ein Kleinkind zu jammern, dann schmiss sie eine Tasse durch den Raum. Ich konnte ihren stupiden, widerlichen Minotaurusblick nicht länger ertragen und flüchtete ins Bad, ließ Wasser in die Wanne ein, um bei einem entspannenden Bad über unsere weitere Zukunft nachzudenken.

Plötzlich stürmte sie das Badezimmer und überfiel mich in der Wanne, kratzte meinen Rücken blutig. Ihre Augäpfel wirkten steif und auch die Körperhaltung glich der einer Spastikerin, und abermals gebärdete sie sich wie eine Furie. Endlich erwischte ich sie, packte in ihre weichen Haare und zog sie in die Wanne, grub krampfhaft meine Fingernägel in ihren zarten Nacken und riss ihr ruckartig das Fleisch auf. Blutschwaden von ihr und mir zogen in der Wanne umher, ihr Blick war immer noch leer. Ihr Körper schien wie ein unbewohntes Schneckenhaus, von ihr verlassen, wie der einer Mumie, und mir wurde plötzlich beklemmend klar, wie einsam ich ohne sie sein würde. Ich ließ eiskaltes Wasser über ihr Haupt laufen und schlug ihr mit der flachen Hand hart ins Gesicht, um sie zurückzuholen.

Erstaunt gaffte sie mich an, wie jemand, der gerade aus einer Ohnmacht erwacht. Sie schaute auf das in der Wanne treibende Blut. Ich merkte schmerzhaft, wie das Schaumbad in meinen Wunden brannte. „Was hab` ich getan? Was hab’ ich nur getan?“ stieß sie wimmernd heraus. Sie umarmte mich gierig. „Verzeih’ mir! Verzeih’ mir Liebling, bitte! Hilf mir! Ich brauche dich doch. Sei mir nicht böse!“ Ich zog sie ungestüm an mich. Wir liebten uns rasch und mit voller Leidenschaft.

Wieder und wieder kaufte ich ihr Stoff. Nie mehr wollte ich sie in diesem Zustand sehen. So gingen einige Wochenenden mit ihr dahin. Dann hatte ich ausnahmsweise früher Feierabend und hörte sie und eine Männerstimme in ihrem Schlafzimmer stöhnen und schreien, wie aus sexueller Lust. Leise schlich ich ins Wohnzimmer. Ein unbändiges Gefühl von Hass stieg bei jedem der lauten Liebesgeräusche in mir auf. Wutentbrannt griff ich zu einem Küchenmesser, trat mit einem gewaltigen Tritt die Schlafzimmertür ein, die mitten im Raum vor dem verdorbenen Bett landete. Sie hatte es mit einem hässlichen, alten Herren getrieben. Der Kerl sauste sofort zu dem Stuhl, auf den er sorgfältig seine Sachen gelegt hatte, ergriff seine Schuhe und verschwand mit angsterfülltem Blick im Treppenhaus.

Da stand ich nun vor ihrem Bett, drückte den Messergriff so fest, als wollte ich Saft aus ihm herausquetschen. „Hast du es dir wenigstens gut bezahlen lassen?“ „Ja“, heulte sie. „Ich wollte nicht nur dein Geld.“ „Und deine Lustschreie, hat er dafür extra gezahlt?“ Sie glotzte mich verständnislos an, ließ sich vor mir auf den Boden gleiten, umfasste meine Fersen und winselte um Vergebung. Hätte sie doch gesagt, sie habe kein Empfinden bei dem anderen gehabt, sie hätte etwa den Preis damit hochtreiben wollen. Ich schreckte vor meinem sich steigernden Hass zurück und mir wurde klar, dass ich sie mehr liebte, als ich mir eingestehen wollte und war unfähig, es einfach abzustellen. Die Nacht verbrachte ich unruhig hin und herwälzend auf dem Sofa.

Köstlicher Kaffeeduft und ein zarter Kuss von Steffi weckten mich am nächsten Morgen. Sonst hatte ich immer das Frühstück bereitet und Steffi nur mühsam aus den Federn bewegen können. Und jetzt stand auf einmal das tollste Hippiemädchen der Welt vor mir, mit Flower-Mini, schwarzen Netzstrümpfen, Margeriten im Haar und einem faszinierenden Lächeln um ihren sinnlichen Mund. Wenn sie eine Indianerin gewesen wäre, hätte man sie bestimmt die „Kleine Morgenfrische“ genannt. Meine Eifersuchts- und Ekelgefühle vom Vorabend waren abgeflaut. Ohne Worte schlürften wir besinnlich unseren Kaffee aus. Danach überraschte sie mich mit einem kleinen Geschenk, einer drolligen, pummeligen Stoffeule in der Größe einer ausgewachsenen Ananasfrucht. Sie sagte: „Das von gestern tut mir leid. Aber es gibt so einiges in mir, was ich selbst nicht verstehe. Die Eule soll dir als Fetisch dienen, wie die Kugel einer Wahrsagerin, um dich zum konzentrierten Nachdenken anzuregen. Und ich hoffe, du erkennst, warum ich nur mit dir zusammenleben will und niemals etwa mit diesem Mann von gestern.“

Sie ging hinaus. Ich betrachtete eine Zeitlang das Kuscheltier. Ja, warum mochte sie mich eigentlich? Es mochte meine Zärtlichkeit, mein Verständnis und die unermüdliche Gemütswärme sein, die mich für sie attraktiv machte. Und ich begriff plötzlich, wie Eifersucht all dieses verstümmeln würde. Es müsste unerträglich für sie sein, wenn ich als Gehörnter auftreten, nörgelnd einen Wall um sie mauern, nach Moral und Sitte schreien und mich in Selbstbeweihräucherung und Selbstgefälligkeit ihr gegenüber brüsten würde. Vieles würde ich verlieren, was sie an mir geliebt hatte. Ich hatte keine Berechtigung, Rechenschaft von ihr zu verlangen für ihre Taten; und betrogene Männer, die Gefängnisse um ihre Frauen errichten, werden zu deren meistverachteten Gefängniswärtern, und alle Gefühle erlöschen.

Hatte mich die Kontemplation mit der Eule wirklich zu einer schlüssigen Einsicht geführt, oder war es nur eine Art Schutzlösung, um die peinigende Eifersucht in mir zu neutralisieren? Ich war mir sicher. Zweifelsfrei war ich auf eine Lebensweisheit gestoßen, küsste die Plüscheule, atmete erleichtert auf, rannte zu Steffi und nahm sie herzlich in die Arme. Was würde ich denn tun, wenn sie mich nur noch passiv eifersüchtig bewachen, ihren Charme, ihre Fröhlichkeit, ihre frivole Natürlichkeit, ja selbst ihren Wahn dagegen eintauschen würde? Ich würde sie natürlich verlassen. So blieb mir nichts übrig, als diese Eifersucht in mir zu besiegen, nur so hoffte ich, Steffi für ewig zu gewinnen, und begriff, wie sehr ich sie liebte.

Hinausschreien wollte ich mein Glück. Alle sollten es wissen. Abends lud ich sie in die hiesige Disco ein, betrachtete sie, wie sie sich am Spiegeltisch zurecht machte. Hatte ich nicht ein Supermädchen, mit der ich jeden Tag genießen sollte, an dem sie mich noch begehrte? Ich rauchte eine Pfeife voll „grass“ und konnte den Blick nicht von Steffi lassen. Wie sehr war ich ihr doch schon verfallen?!
Etwas angetörnt stürmten wir die Diskothek. Tanja verließ entrüstet, mit vor Zorn sprühenden Augen, die Räumlichkeiten, die anderen aus der Clique ebenfalls. Olaf sagte mir, dass ich ihm Leid täte. Aber es werde der Tag kommen, wo ich es einsehen würde. Doch ich konnte Steffi nicht mehr loslassen. Und Tanja hätte den Schmutz einer Hure nicht ertragen können, der an mir unwiderruflich wie eine Tätowierung eingeätzt war. Steffi und ich tanzten ekstatisch bis zur Seligkeit. Völlig berauscht und erschöpft fielen wir gegen Morgen in ihr Bett. Selten habe ich so gut geschlafen.

Die nächsten Wochenenden war sie erneut überflutet von reizbarer Unruhe und Zerfahrenheit in ihren Gedanken. Diese Zustände häuften sich mehr und mehr. Ihr Verhalten wurde unerträglich. Es umfasste ein Spektrum von einem störrischen, trotzigen Kleinkind bis hin zu einer hektisch um sich schlagenden Bestie. Tassen und Teller gingen abermals zu Bruch. Und die Liebe zu Steffi forderte aufs Neue von mir Versuche, sie vom lebensbedrohlichen Heroin abzubringen. Die Folge meiner Bedrängnisse war, dass sie sich gänzlich von mir abwendete, und einen „Freund“ aus der Drogenszene kennen lernte. Ich erahnte ihren Untergang. Dann begegnete ich ihm mit Superschlitten, typischer Zuhältertyp, groß, schlank, harte Gesichtszüge, schwarze Lederklamotten. Zwei etwas kleinere Herren in Maßanzügen begleiteten ihn, offenbar seine Gorillas.

Steffi wollte gerade zu ihnen in den Cadillac steigen, da ergriff ich sie am Arm, hielt sie zurück und redete beschwichtigend auf sie ein. Ich spürte, wenn sie mitführe, würde ich sie nicht wieder sehen, und sie würden nicht nur ihren Körper vergiften, sondern auch ihre Seele weiter zerstören. Doch Steffi riss sich von mir los, die drei stiegen aus, schimpften mich einen Sozialprediger, der sich um seine Angelegenheiten kümmern solle. Krampfhaft umklammerte ich Steffi und flehte sie an, zu bleiben. Nun ergriffen mich die drei, zerrten und schleiften mich auf den breiten Grünstreifen am Straßenrand. Ich spürte ihre harten Schuhabsätze in meinem Gesicht, wieder und wieder immer härter werdend. Regungslos blieb ich auf dem Bauch liegen. Endlich ließen sie von mir ab. Ich hörte wie sich ihre Schritte entfernten, dann das Schlagen der Autotüren, hob vorsichtig meinen Kopf.

Warm rann mir das Blut aus einer Stirnwunde an der Nase vorbei, ich schmeckte es auf meinem Mund, dann tropfte es zwischen meine gespreizten Finger. Ich empfand keinerlei Schmerzen, registrierte das Geschehen kalt wie ein Roboter, blickte zwischen ein paar längeren Grashalmen hindurch gegen die untergehende Abendsonne auf die vier Meter vor mir entfernte Silhouette von Steffis Körper. Breitbeinig fordernd stand sie da, beschimpfte mich: „Du denkst wohl, du bist was besseres. Ich habe die Schnauze voll, nach deiner Pfeife zu tanzen. Geh` doch zu deiner Tanja, du Mistkerl!“ Und in ihren Augen war für Sekunden wieder jene traurige Verzweiflung, wie damals, als sie in der Pfütze zurückblieb, nur jetzt lag ich da unten am Boden. Ihr Gesicht verzog sich kurz zu einer Fratze, sie spuckte nach mir aus, dann hastete sie schluchzend weg, verschwand im Inneren des Cadillacs, der darauf davonbrauste.

Der Blutstrom aus meiner Wunde floss schon sachter, war aber immer noch warm und beruhigend. Steffis Spucke hatte sich nicht weit von mir an zwei schwächlichen Grashalmen gehängt, die sich unter der Last durchbogen. Ich beobachtete gebannt, wie die einzelnen Bläschen, schillernde Facetten, eine nach der anderen zerplatzten. Das letzte, was mir von Steffi jetzt geblieben war - die Spucke ihrer Verachtung. Nein, ich wusste, sie liebte mich. Die Spucke galt ihr selbst.

Etwas Luftbewegung kam auf. Ein kleiner Teil der Spucke wurde hinweggerissen, ein winziges Stück Gestalt gewordener Selbstverachtung, ertrinkend in einem gigantischen Kosmos.

Steffi habe ich nicht wieder gesehen. Ich hörte bald, sie sei an einer Überdosis Heroin auf einer schmutzigen, zugig-kalten Bahnhofstoilette elendig verreckt. Und alle Geborgenheit, die ich ihr geben wollte, alles Liebe, was ich ihr hätte noch sagen wollen, es bohrt unerfüllt, wühlt und gärt rastlos in meinen Eingeweiden, solange ich lebe. Aber wenn mir jetzt mal eine Dame Verachtung entgegenbringt, dann überwinde ich es mit Gelassenheit, weiß ich doch von der Bedeutung der Spucke meines Mädchens, meines Hippiemädchens, der Einzigen, die ich wirklich geliebt habe.

*
(C) Enno Ahrens

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